BGH: PIP – Haftung der Benannten Stelle (Brustimplantate)

Die Beklagte ist die vom französischen Hersteller von Silikonbrustimplantaten, PIP, beauftragte Benannte Stelle gemäß Richtlinie 93/42/EWG. Die Klägerin, eine Krankenkasse, macht Schadensersatz für Revisionsoperationen von 26 Versicherten aus übergegangenem Recht (§ 116 Abs. 1 SGB X) geltend, zudem Feststellung weitergehenden Schadensersatzes für noch nicht bekannt gewordene Versicherte. Der Benannten Stelle wird vorgeworfen, im Rahmen der Überwachung nach Anhang II Richtlinie 93/42/EWG pflichtwidrig nicht erkannt zu haben, dass der Hersteller für die bei den betroffenen Versicherten eingesetzten Silikonbrustimplantate nicht zugelassenes Industriesilikon verwendet hat.

  1. Der Feststellungsantrag ist zulässig, da mit weiteren Revisionsoperationen zumindest zu rechnen ist. Die möglichen zukünftigen Kosten betreffen den Umfang des bereits durch das in der Vergangenheit erfolgte Einsetzen fehlerhafter Implantate. Nach dem verjährungsrechtlichen Grundsatz der Schadenseinheit beruhen auch diese Schadensfolgen auf einem einheitlichen Verhalten (hier der behaupteten Pflichtverletzung bei der Überwachung). Die Erhebung der Feststellungsklage ist daher zur Verjährungshemmung für die noch unbekannten Schäden erforderlich.
  2. Die Bekannte Stelle haftet nicht aus dem mit dem Hersteller im Jahre 1997 geschlossenen Zertifizierungsvertrag nach den Grundsätzen des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Bereits die erforderliche Leistungsnähe der Patienten zur Zertifizierungsleistung ist zweifelhaft. Jedenfalls fehlt es an einem notwendigen Einbeziehungswillen der Vertragsparteien. An einen, für die Einbeziehung Dritter in den Schutzbereich des Vertrags erforderlichen hypothetischen Willen der Parteien sind strenge Anforderungen zu stellen. Ein entsprechender hypothetischer Einbeziehungswille des Herstellers zugunsten der Patienten ist nicht anzunehmen, vielmehr diente die Einschaltung der Benannten Stelle als notwendige Voraussetzung, um den Marktzugang für das betroffene Produkt zu eröffnen. Ein Einbeziehungswille ergibt sich auch nicht aus dem Aspekt der vertraglichen Expertenhaftung, denn die Entscheidung der Patienten für eine Implantation beruht nicht auf der Zertifizierungsleistung der Benannten Stelle. Denn das CE-Kennzeichen nach § 6 MPG ist kein besonderes Qualitätssiegel, dem ein gesteigertes Vertrauen entgegengebracht wird, sondern ist notwendige rechtliche Voraussetzung für das Inverkehrbringen.
  3. Demgegenüber kommt eine deliktische Haftung der Benannten Stelle aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit einem Schutzgesetz in Betracht. Bei der Regelung zum Konformitätsbewertungsverfahren und den daraus folgenden Rechten und Pflichten der Benannten Stelle gemäß § 6 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 37 MPG, § 7 Abs. 1 Nr. 1 MPV und Anhang II Richtlinie 93/42/EWG handelt es sich um ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB, das die Sicherheit und Gesundheit der einzelnen Patienten auch durch die Tätigkeit der Benannten Stelle geschützt werden soll (unter Verweis auf die Vorgaben von EuGH, Urteil vom 16.02.2017 – C-219/15). Der Tätigkeit der Benannten Stelle komme ungeachtet der privatrechtlichen Beauftragung Befugnisse gegenüber dem Hersteller zum Schutz der Patienten zu, die denen einer Behörde im öffentlichen Recht ähnlich sind. Die Haftung der Benannten Stelle sei auch sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar. Nach Auffassung des BGH würde eine fehlende Haftung der Benannten Stelle bei schuldhaften Pflichtverletzungen gegenüber den Patienten den Sinn und Zweck des Konformitätsbewertungsverfahrens im europäischen Medizinprodukterecht, das an die Stelle eines behördlichen Zulassungsverfahrens tritt, entwerten. Die deliktische Haftung der Benannten Stelle beuge der Gefahr asymmetrischer Anreize bei der Zertifizierung zu Lasten der Patienten vor.
  4. Der BGH hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht (OLG Nürnberg) zurückverwiesen, da dieses die Klage aus Rechtsgründen abgewiesen und noch keine Feststellungen zu der Frage einer mindestens fahrlässigen Pflichtverletzung der Benannten Stelle im Rahmen der Überwachung getroffen hat.
BGH, Urteil v. 27.02.2020 – VII ZR 151/18
Instanzen:
OLG Nürnberg, Urteil vom 20.03.2014 - 11 O 7069/13
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 27.06.2018 - 4 U 979/14
§§ 280, 823 Abs. 2 BGB, § 6 MPG, § 7 Abs. 1 Nr. 1 MPV, Anhang II Richtlinie 93/42/EWG


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