BGH: Haftung des Schädigers für die Nierenspende des Nothelfers

Ärztlicher Behandlungsfehler, der lebensbedrohliche Lage eines Kindes ausgelöst hat, ist kausal für Nierenspende der Kindesmutter, die Nierenspende ist Folge der Verletzungshandlung, die deliktische Normen erfüllt

BGH, Urt. v. 30.06.1987 – VI ZR 257/86
Instanzen:
Schleswig
BGB § 823


Aus den Gründen:

Der Oberarzt Dr. Dr. H hat, als er der (damals 13 Jahre alten) Kl. unter Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflichten deren einzige Niere entfernte,

nicht nur Körper und Gesundheit der Kl. selbst verletzt. Er hat dadurch auch einen Gefahrenzustand geschaffen, der vor allem nahe Angehörige der Kl. dazu veranlassen konnte, zur Rettung von Leben und Gesundheit der Kl. eine Verletzung des eigenen Körpers in Kauf zu nehmen, indem sie eine Niere zur Implantation bei der Kl. zur Verfügung stellten. Das so dem Organspender aufgezwungene Opfer der eigenen körperlichen Unversehrtheit ist ein Verletzungstatbestand, der bis auf noch zu erörternde Besonderheiten, die jedoch nicht zu einer abweichenden rechtlichen Wertung führen können, wie in anderen Rettungs- und Nothilfefällen eine Schadensersatzpflicht des für die Rettungs- und Notlage verantwortlichen Schädigers auch gegenüber dem Retter und Nothelfer, der bei der Rettungshandlung zu Schaden kommt, begründen kann.
Ein haftungsrechtlich relevanter Ursachenzusammenhang zwischen der von dem Bekl. (Krankenhausträger) zu verantwortenden Entfernung der einzigen Niere der Kl. und der Nierenspende ihrer Mutter steht außer Frage. Die Möglichkeit einer Nierentransplantation, auch die der sog. Lebendspende war seinerzeit bekannt, und eine Nierenspende durch einen nahen Angehörigen keine so entfernte Möglichkeit, daß sie schon deswegen rechtlich außer Betracht zu bleiben hätte. Es ist vielmehr nachvollziehbar, daß eine Mutter auf Anraten der Ärzte sich zu einem solchen Opfer für ihr Kind bereit findet. Die Kausalkette wird auch nicht schon dadurch durchbrochen, daß die Nierenspende auf einem freiwilligen Entschluß der Mutter der Kl. beruht; dieser Entschluß beruht nur auf dem Aufforderungscharakter der von dem Bekl. zu verantwortenden Gefahrenlage, in die die Mutter der Kl. durch die ärztliche Fehlbehandlung gebracht worden war und ohne die es nicht zur Rettungshandlung gekommen wäre. Daß auch eine psychisch vermittelte Kausalität zur Haftungsbegründung ausreichen kann, entspricht der Rspr. des erk. Senats (BGHZ 56, 163, 168 = MDR 1971, 919 Nr. 30; st. Rspr.) und der fast einhelligen Ansicht im Schrifttum.
Auch ist in der höchstrichterlichen Rspr. seit langem anerkannt, daß der Entschluß, sich der Gefahr eigener Verletzungen auszusetzen, um einen anderen aus einer Gefahrenlage zu retten, nicht schon grundsätzlich eine neue Zurechnung eröffnet, die derartige Schädigungen des „Retters” haftungsrechtlich diesem selbst zuordnet und sie aus der Einstandspflicht des für die Gefährdung des „Geretteten” Verantwortlichen entläßt. Vielmehr hat schon das RG dessen Haftung auch auf derartige Verletzungen des „Retters” jedenfalls dann erstreckt, wenn die Rettungshandlung im Hinblick auf den drohenden und abzuwendenden Schaden nicht unverhältnismäßig war (RGZ 29, 120 ff.; 50, 219, 223; 164, 125 f.; vgl. auch OLG Stuttgart NJW 1965, 112; BGH NJW 1964, 1363, 1364 = MDR 1964, 587 Nr. 45; BGHZ 57, 25, 29 ff. [= MDR 1971, 920 Nr. 31]; 63, 189, 192 ff. [– MDR 1975, 219 Nr. 25]). Dem entspricht jedenfalls im Grundsatz die einhellige Meinung im Schrifttum. Erst wenn der Schädiger verantwortlich einen Gefahrenzustand geschaffen hat, der von einem solchen Gewicht und von einem solchen Aufforderungscharakter an den Retter und Nothelfer ist, daß das von diesem auf sich genommene Risiko ebenso wie die für den zu Rettenden gesetzten Gefahr bei einer wertenden Betrachtung dem Schädiger zuzuordnen ist, weil er den zu Rettenden in eine Lage gebracht hat, die das Eingreifen des Retters und Nothelfers wenn nicht gebietet, so doch mindestens verständlich und billigenswert macht, muß er für die Selbstschädigung des Retters und Nothelfers einstehen. Es ist dann nicht mehr gerechtfertigt, das Eingreifen des Retters und Nothelfers isoliert von der Schaffung der „gesteigerten Gefahrenlage” (so BGHZ 57, 29 = MDR 1971, 920 Nr. 31) durch den Schädiger zu betrachten. In diesem Sinn hat der erk. Senat wiederholt von einer vorwerfbaren „Herausforderung” der Selbstgefährdung des Geschädigten durch den Schädiger gesprochen.
Zur näheren Konkretisierung dieser haftungsrechtlichen Wertung hat der Senat bereits einige Grundsätze entwickelt. So darf die Intervention des Retters oder Nothelfers nicht vollständig frei sein; sie muß durch die erste Tat nahegelegt worden, durch sie „herausgefordert” worden sein. Darüber hinaus muß die Selbstgefährdung und die in Kauf genommene eigene Verletzung in einem angemessenen Verhältnis zu dem möglichen Erfolg des Eingreifens stehen und in ihrer Motivation nach den anerkannten gesellschaftlichen Verhaltensregeln wenigstens zu billigen sein (so schon BGHZ 57, 31 [= MDR 1971, 920 Nr. 31] und 63, 193 [= MDR 1975, 219 Nr. 25]). Ohne solche, die Haftung begrenzenden Kriterien, die damit zunächst nur sehr allgemein umschrieben werden und im Einzelfall näherer Ausformung bedürfen, läge die Haftung desjenigen, der einem anderen Schaden zugefügt hat, für dadurch ausgelöstes Eingreifen Dritter nicht mehr im Schutzbereich der Verhaltenspflicht, keine herausfordernden Rettungs- oder Nothilfesituationen herbeizuführen. Die Selbstgefährdung und die Selbstverletzung des Retters oder Nothelfers gehören dann zu seinem von ihm allein zu verantwortenden Lebensbereich. Er handelt „auf eigene Gefahr”.
Diese Rechtsgrundsätze rechtfertigen es, im Streitfall die Nierenspende und die damit verbundene Körperverletzung und Gesundheitsbeschädigung der Mutter der Kl. dem dieses Opfer nahelegenden, vom Bekl. zu verantwortenden Verhalten des Oberarztes Dr. Dr. H haftungsrechtlich zuzurechnen. Die Nierenspende beruhte gerade darauf, daß Dr. Dr. H die Mutter der Kl. durch Verletzung ihres Kindes in eine Lage gebracht hat, in der sie sich zu einem solchen Opfer aufgefordert fühlen durfte. Fraglos ist ihr Verhalten sittlich hoch zu bewerten und von der Rechtsordnung deshalb zu billigen und anzuerkennen. Der medizinisch jedenfalls indizierte Versuch, durch die Spende einer gesunden Niere die körperliche und gesundheitliche Lage der Kl. zu verbessern und die Dialyse-Behandlung mindestens erheblich abzukürzen, steht in einem vernünftigen und angemessenen Verhältnis zu der Selbstschädigung, die die Mutter der Kl. auf sich genommen hat. Ihr Entschluß beruhte gerade auch auf eingehender Beratung durch die die Kl. behandelnden Ärzte.
Der Zurechnungszusammenhang kann nicht deswegen verneint werden, weil die Mutter der Kl. ihren Entschluß zur Nierenspende nicht unter dem unmittelbaren Eindruck einer akuten Notlage gefaßt, sondern Zeit hatte, sich darüber mit Ärzten zu beraten und das Für und Wider reiflich zu überlegen. Wird ein Eingreifen des Retters und Nothelfers nahegelegt, dann kann es nicht darauf ankommen, ob er sozusagen aus der Situation heraus spontan gehandelt hat oder ob er vorher Chancen und Risiken seiner Intervention für sich abwägen konnte. Die Nierenspende eines nahen Angehörigen – hier der Mutter – für das verletzte Kind ist bei solcher Betrachtung noch zwanglos als herausgeforderte Rettungsmaßnahme für das bedrohte Leben oder die bedrohte Gesundheit des Kindes anzusehen. Das Opfer der Mutter steht im inneren Zusammenhang mit der vom bekl. Arzt durch die Entfernung der einzigen Niere des Kindes verschuldeten bedrohlichen Lage. Deswegen ist im Streitfall die Nierenspende der Mutter der Kl. als Folge der Verletzungshandlung anzusehen, für die der Bekl. deliktisch einzustehen hat.

Anmerkung der Schriftleitung: Das mit dieser Entscheidung bestätigte Berufungsurteil ist in FamRZ 1987, 384 und NJW 1987, 710 veröffentlicht.

MDR 1987, 1016
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