BGH: Organisationspflicht eines Belegkrankenhauses hinsichtlich Bereitstellung von ausreichend kompetenten Personal

Das Belegkrankenhaus muß im Rahmen seiner Organisationspflicht gegen eine Handhabung einschreiten, durch welche der Belegarzt dem Pflegepersonal des Belegkrankenhauses Aufgaben überläßt, die die pflegerische Kompetenz übersteigen (hier: Überwachung eines CTG durch die Nachtschwester).

BGH, Urteil v. 16.04.1996 – VI ZR 190/95
Instanzen:
OLG Hamm; LG Münster
BGB § 823


Sachverhalt:

Die Klägerin zu 1 a) war mit einer Zwillingsschwangerschaft (errechneter Geburtstermin 5. 7. 1990) Patientin des früheren Zweitbeklagten, der Belegarzt in einem von der Erstbeklagten getragenen Krankenhaus ist. Dort wird u.a. eine gynäkologische Belegstation unterhalten. Am 22. 5. 1990 wurde die Klägerin nach einer Untersuchung, die vorzeitige Wehen ergab, auf Veranlassung des Zweitbeklagten gegen 11.30 Uhr in diese Belegstation aufgenommen und dort mittels Tokolyse-Tropf behandelt. Zeitweise fanden CTG-Aufzeichnungen statt. Während der folgenden Nacht waren auf der Belegabteilung weder ein Arzt noch eine Hebamme zugegen. Nachdem die Nachtschwester den Zweitbeklagten mindestens zweimal – zunächst wegen Erbrechens und sodann wegen von der Patientin gemeldeter Wehen – angerufen hatte, verständigte sie gegen 5.49 Uhr die frühere Drittbeklagte, die als Beleghebamme Bereitschaftsdienst hatte. Auf deren Veranlassung bat sie gegen 5.51 Uhr telefonisch den Zweitbeklagten, ins Krankenhaus zu kommen, wo dieser und die Drittbeklagte kurz nach 6 Uhr eintrafen. Die Geburt der Zwillinge erfolgte spontan um 6.50 Uhr und 6.53 Uhr. Während beim erstgeborenen Kind, dem Kläger zu 2), zunächst keine neurologischen Auffälligkeiten eingetreten sind, kam es beim zweiten Kind als Folge einer Hirnblutung zur Ausbildung eines Wasserkopfes und am 9. 9. 1990 zum Tod durch Hirnversagen.
Mit der Klage haben die Klägerin zu 1 a) und ihr Ehemann, der Kläger zu 1 b), als Erben des verstorbenen Kindes von den Beklagten die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes verlangt. Der Kläger zu 2) hat die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für alle künftigen Schäden aus dem Geburtsgeschehen begehrt. Die Klägerin zu 3) hat als gesetzlicher Krankenversicherer Ersatz gezahlter Krankenkosten und die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für künftige Aufwendungen verlangt. Die Kläger haben der Beklagten zu l) Organisations- und Überwachungsverschulden und den Beklagten zu 2) und 3) Behandlungsfehler vorgeworfen. Sie haben behauptet, hierdurch sei es zu dem Tod des zweitgeborenen Kindes und der Gefahr künftiger Schäden des Klägers zu 2) gekommen.
Das LG hat die Klagen abgewiesen. Das OLG hat die Beklagten zu l) und 2) zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 20 000 DM verurteilt und gegenüber diesen Beklagten den Feststellungsanträgen stattgegeben sowie den Zahlungsantrag der Klägerin zu 3) für dem Grunde nach berechtigt erklärt.
Die allein von der Erstbeklagten eingelegte Revision wurde zurückgewiesen.

Aus den Gründen:

Der Senat hat im Urteil BGHZ 129, 6, 13 f = MDR 1995, 698 die Frage aufgeworfen, wie weit die Organisationspflicht eines Belegkrankenhauses hinsichtlich der Bereitstellung von ärztlichem und nicht ärztlichem Personal reicht, brauchte sie jedoch nicht zu entscheiden, weil im damaligen Fall mit der Anwesenheit von Bereitschaftsarzt und Hebamme bei der Entbindung der Einsatz von entsprechend qualifiziertem Personal organisatorisch sichergestellt war.
Auch der vorliegende Fall nötigt nicht zu einer abschließenden Beurteilung dieser Frage. Wenngleich das OLG kein

Versäumnis der Erstbeklagten darin gesehen hat, daß Arzt und Hebamme lediglich in Rufbereitschaft standen, hat es doch die konkrete Handhabung unter dem Blickpunkt einer geordneten Krankenhausorganisation für unzureichend erachtet. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand.
Bei einer derartigen Ausgestaltung des Nachtdienstes war nämlich die ordnungsgemäße Versorgung der Patientin auch von seiten des Belegkrankenhauses nicht in der erforderlichen Weise sichergestellt. Soll nämlich einerseits die Nachtschwester bei Auffälligkeiten des CTG den Arzt verständigen, kann sie aber andererseits solche Auffälligkeiten mangels fachlicher Ausbildung nicht zuverlässig erkennen, so liegt auf der Hand, daß die Rufbereitschaft des Belegarztes jedenfalls dann nicht ausreichen kann, wenn ihre Auslösung von der Auswertung eines CTG durch die fachlich nicht kompetente Nachtschwester abhängt.
Unter diesem Blickpunkt hat das OLG mit Recht ein entscheidendes Defizit auf seiten der Erstbeklagten darin gesehen, daß es nach der üblichen Handhabung der nur für den allgemeinen Pflegebereich ausgebildeten Nachtschwester überlassen war, die Entscheidung über die Hinzuziehung des Belegarztes zu treffen, obwohl sie jedenfalls im Hinblick auf die Auswertung des CTG gar nicht erkennen konnte, wann die Situation kritisch wurde und ärztliches Erscheinen geboten war. Deshalb hätte das Belegkrankenhaus durch organisatorische Maßnahmen sicherstellen müssen, daß sein Pflegepersonal nicht mit derartigen Aufgaben befaßt wurde, und jedenfalls in geeigneter Weise gegen einen solchen Mißstand einschreiten müssen. Das hätte sich dahin ausgewirkt, daß der Belegarzt für eine den medizinischen Anforderungen entsprechende Regelung des Nachtdienstes und der Rufbereitschaft auf der Belegstation und in diesem Rahmen auch für die Überwachung des CTG durch eine entsprechend ausgebildete Person hätte sorgen müssen, ohne insoweit das Pflegepersonal einsetzen zu können.
Mit zutreffenden Erwägungen hat das OLG die Versäumnisse der Erstbeklagten für schuldhaft erachtet, weil sie sich selbst dann, wenn sie keine konkrete Kenntnis von den Vorgängen in der betreffenden Belegstation gehabt haben sollte, im Rahmen der Kontroll- und Aufsichtspflichten über ihr Pflegepersonal hätte vergewissern müssen, daß Schwestern nicht mit ärztlichen Aufgaben befaßt würden. Nach den Feststellungen des OLG, daß die Handhabung des Nachtdienstes der üblichen Regelung entsprochen habe, kann nämlich von einer längeren Dauer dieses Zustandes ausgegangen werden. Dann liegt jedoch auf der Hand, daß die Erstbeklagte bei pflichtgemäßer Überwachung ihres Personals hiervon ohne weiteres Kenntnis erhalten konnte und gegen dessen kompetenzüberschreitenden Einsatz einschreiten mußte.

MDR 1996, 1016
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