Hanseatisches OLG Hamburg: vorwerfbarer Planungsfehler bei Zahnersatz unter Verwendung von Konuskronen (Beweislast)

1. Stützt sich ein Patient für den Vorwurf eines zahnmedizinischen Behandlungsfehlers auf ein 2 1/2 Jahre nach Abschluß der Behandlung eingeholtes kassenzahnärztliches Gutachten, so kann das Gericht anordnen, daß der Patient die Behandlungsunterlagen eines nachbehandelnden Zahnarztes in Kopie zur Gerichtsakte zu reichen hat.

2. Kommt der Patient dieser Anordnung innerhalb der ihm richterlich gesetzten Frist nicht nach, so kann der Antrag auf Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens unter den Voraussetzungen des § 528 ZPO zurückgewiesen werden.

Hanseatisches OLG Hamburg, Urteil v. 15.09.1995 – 1 U 17/95
Instanzen:
LG Hamburg - 323 O 46/94
ZPO §§ 142, 273, 282, 428, 429, 528


Sachverhalt:

Die Klägerin verlangt vom Beklagten Schmerzensgeld wegen eines zahnärztlichen Behandlungsfehlers.
Die Klägerin, die sich Anfang 1989 Zahnersatz im Ober- und Unterkiefer hatte eingliedern lassen, begab sich Ende 1990, als sie den Eindruck gewonnen hatte, der Zahnersatz passe nicht mehr richtig, in die Behandlung des Beklagten, der sie unter Verwendung alter Konuskronen mit neuen Prothesen im Ober- und Unterkiefer versorgte. Der letzte Behandlungstermin war der 24.5.1991. Schon kurze Zeit später trug die Klägerin die Prothesen, die ihr Beschwerden bereiteten, jedenfalls nicht mehr durchgängig. Im Verlaufe des Jahres 1992 mußte sich die Klägerin mehreren stationären Krankenhausaufenthalten unterziehen, ohne daß es in dieser Zeit zu einer zahnärztlichen Behandlung kam. Erst im Februar 1993 suchte die Klägerin den Zahnarzt Dr. D. auf, der ein kassenzahnärztliches Gutachten des Dr. St. veranlaßte, das unter dem 7.10.1993 zu dem Ergebnis gelangte, der Zahnersatz weise Mängel auf, die nach 2 1/2-jähriger Tragezeit auftreten könnten, Fehler bei der Eingliederung seien nicht festzustellen. Das zusätzlich eingeholte "Obergutachten" des Dr. B. vom 20.1.1994 ergab demgegenüber, daß der Zahnersatz aufgrund einer durch die Konuskronen verursachten Bißsperrung völlig funktionsunfähig sei, die Wiederverwendung der Konuskronen ein Planungsfehler gewesen und eine Neuversorgung dringend notwendig sei.
Gestützt auf diese Gutachten hat die Klägerin den Beklagten wegen der langjährigen erheblichen Beschwerden auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes i.H.v. mindestens 15 000 DM verklagt. Das angerufene LG hat der Klägerin wiederholt unter Fristsetzung aufgegeben, die Behandlungsunterlagen des nachbehandelnden Zahnarztes Dr. D. zur Gerichtsakte zu reichen. Als die Klägerin dem nicht nachkam, hat es die Klage ohne Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens als unbegründet zurückgewiesen. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg.

Aus den Gründen:

Die Klägerin hat nicht den Nachweis geführt, daß die vom Beklagten zwischen dem 11.10.1990 und dem 24.5.1991 durchgeführte zahnmedizinische Behandlung fehlerhaft gewesen ist und einen Schmerzensgeldanspruch der Klägerin rechtfertigen könnte.
Abgesehen davon, daß die von der Klägerin geltend gemachte Höhe des Schmerzensgeldes erheblich übersetzt erscheint, weil nicht nachzuvollziehen ist, daß die bei der Klägerin aufgetretenen Beschwerden einerseits äußerst schmerzhaft gewesen seien, andererseits aber die Klägerin über einen Zeitraum von fast 1 1/2 Jahren keinen Zahnarzt zur Schmerzlinderung aufgesucht hat, fehlt es auch schon an einem Nachweis der Haftung des Beklagten dem Grunde nach.
Die Klägerin hat nicht zur Überzeugung des Gerichts belegen können, daß die vom Beklagten im Heil- und Kostenplan vom 19.11.1990 angekündigte und ausweislich der im Original bei der Akte befindlichen Behandlungskarteikarte in der Folgezeit zur Ausführung gelangte prothetische Versorgung auf einem fehlerhaften Behandlungsplan beruhte. Insbesondere erweist sich das im kassenzahnärztlichen "Obergutachten" Dr. B. v. 20.1.1994, auf das sich die Klägerin in erster Linie stützt, zum Ausdruck gebrachte Ergebnis, daß die Wiederverwendung der Konuskronen ein Planungsfehler gewesen sei, weil diese schon von Anfang an funktionsuntüchtig gewesen seien, insoweit als nicht plausibel, als die dieser Schlußfolgerung zugrundeliegenden Vorgaben, daß beide Prothesen sich spannungsfrei hätten eingliedern lassen, die Kunststoffsättel und Modellgußbasen der Schleimhaut exakt anlägen und die Primärkronen einen guten Randschluß hätten und daß aufgrund dessen eine Elongation der Pfeiler seit der Eingliederung des teilweise erneuerten Ersatzes im Januar 1991 ausgeschlossen werden könne, mit den tatsächlichen Gegebenheiten nicht in Einklang zu bringen sind. (Wird ausgeführt.)


Die Zweifel an den Feststellungen im Gutachten Dr. B. werden im übrigen durch die Ausführungen im Gutachten Dr. St. vom 7.10.1993 verstärkt. Die diesem Gutachten zugrundeliegende Untersuchung vom 14.9.1993 hatte nämlich ergeben, daß die vorliegenden Mängel einen Umfang hätten, wie sie in der Regel nach einer 2 1/2-jährigen Tragezeit auftreten könnten; insoweit sei nicht feststellbar, daß diese Mängel bereits bei Eingliederung des Zahnarztes vorhanden gewesen seien; vielmehr müsse ein ausreichendes Ergebnis durch Einschleif- und Unterfütterungsmaßnahmen wieder herzustellen sein.
Bei dieser Sachlage kann nicht die Feststellung getroffen werden, daß die vom Beklagten vorgenommene Verwendung der vorhandenen Konuskronen, die für die Klägerin eine wirtschaftlich günstigere Maßnahme darstellte als eine neue Gesamtversorgung und die der Klägerin ausweislich des an sie gerichteten Heil- und Kostenplanes vom 19.11.1990 auch mitgeteilt worden ist, ein vorwerfbarer Planungsfehler gewesen ist. Daß sich nach einem Zeitraum von 2 1/2 Jahren, in welchem die Zahnprothesen nur zeitweilig getragen worden sind, exakte Feststellungen zum ursprünglichen Zustand nicht mehr treffen lassen, muß zu Lasten der insoweit beweispflichtigen Klägerin gehen, zumal sie es in der Hand gehabt hätte, zu einem früheren Zeitpunkt das Ergebnis der Arbeiten des Beklagten überprüfen zu lassen.
Das Gericht sieht sich auch nicht gehalten, das von der Klägerin beantragte gerichtliche Sachverständigengutachten einzuholen. Abgesehen davon, daß schon erhebliche Zweifel daran bestehen, ob ein Gutachter zum jetzigen Zeitpunkt noch mit hinreichender Sicherheit Feststellungen zum damaligen Zustand wird treffen können, ist dieser Beweisantrag nach § 528 I ZPO zurückzuweisen, weil eine Zulassung dieses Beweisantrages den Rechtsstreit verzögern würde und die Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens in erster Instanz darauf beruhte, daß die Klägerin trotz der ihr nach § 273 II Nr. 1 ZPO gesetzten Frist die Karteikarte des nachbehandelnden Zahnarztes Dr. D. nicht zur Gerichtsakte gereicht hat. Mit der im Arzthaftungsprozeß verstärkt geltenden Pflicht des Gerichts zur Amtsermittlung korrespondiert die Verpflichtung der Parteien, ihrerseits zu einer zügigen und umfassenden Aufklärung des Streitstoffes beizutragen. Demgemäß ist das Gericht berechtigt, der klagenden Patientin aufzuerlegen, Kopien von Behandlungsunterlagen nachbehandelnder Ärzte zur Gerichtsakte zu reichen, die sich zwar nicht, wie § 142 I ZPO es verlangt, in ihren Händen befinden, die sie aber nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts von dem Dritten ohne weiteres herausverlangen kann (vgl. §§ 422, 429 ZPO). Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, daß ein einzuholendes Sachverständigengutachten zu den anstehenden Fragen umfassend und fundiert Stellung nehmen kann. Kein Zweifel kann auch daran bestehen, daß die Behandlungskarteikarte des nachbehandelnden Zahnarztes für die Beurteilung des Zustandes, der sich bei der Klägerin zum Zeitpunkt der Einholung der kassenärztlichen Gutachten gezeigt hatte, von entscheidender Bedeutung sein konnte, so daß die Beweiserhebung durch einen Sachverständigen von der Beibringung dieser Unterlagen hatte abhängig gemacht werden dürfen.
Die Klägerin hat weder in der ihr vom LG in der mündlichen Verhandlung vom 28.6.1994 bis zum 18.8.1994 gesetzten Replikfrist noch in der ihr durch Beschluß vom 29.9.1994 nochmals gem. § 273 II Nr. 1 ZPO gesetzten (Nach-)Frist die erbetenen Behandlungsunterlagen in Kopie zur Gerichtsakte gereicht. Die Klägerin hat dieses Untätigsein auch nicht genügend entschuldigt. Sie kann insbesondere nicht mit dem nach Fristablauf unterbreitetem Vorbringen gehört werden, sie habe es in der ihr gesetzten Frist intensiv versucht, die Behandlungskarteikarte vom nachbehandelnden Zahnarzt Dr. D. zu erhalten, dieser sei jedoch ihrer Bitte nicht nachgekommen. Eine sorgfältige und auf Förderung des Verfahrens bedachte Prozeßführung (vgl. § 282 I ZPO) hätte es erfordert, daß die Klägerin ihr vergebliches Bemühen innerhalb der gesetzten Frist dem Gericht mitgeteilt hätte. Entweder wäre das Gericht dann seinerseits an den nachbehandelnden Zahnarzt herangetreten, oder es hätte der Klägerin zur Herbeischaffung der Urkunde, ggf. im Klagewege, eine Frist i.S.v. § 428 ZPO bestimmen müssen. Jedenfalls wäre es nicht zur Anberaumung eines den ersten Rechtszug abschließenden Haupttermins (§ 278 ZPO) gekommen.

OLGReport Hamburg 1996, 35
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