Hanseatisches OLG Hamburg: Zum Verschulden des Zahnarztes bei Annahme der Indikation einer Implantatsversorgung

1. Sucht eine Patientin einen für das Einsetzen von Zahnimplantaten bekannt gewordenen Zahnarzt auf, weil sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht länger eine herausnehmbare Oberkieferprothese tragen will, so kann es, wenn die Verwendung einer konventionellen Oberkieferprothese wegen starker Atrophie beider Kiefer problematisch ist, dem Zahnarzt zumindest

nicht als Verschulden angerechnet werden, daß er die Indikation für eine Implantatsversorgung angenommen hat.

2. Zumindest für das Jahr 1991 war die subperiostale Implantation eine medizinisch anerkannte Behandlungsmethode, die insbesondere zur Wahl stand, wenn enossale Implantate wegen eines atrophierten Oberkieferknochens ausschieden. Die inzwischen angewandte Methode der Verpflanzung eines Teils des Beckenknochens als Kieferknochenersatz war seinerzeit erst in der Entstehung begriffen.

3. Hat das erstinstanzliche Gericht über einen Teil des Anspruchs nicht – auch nicht dem Grunde nach – entschieden, so hat das Berufungsgericht die Klage gleichwohl vollen Umfangs abzuweisen, wenn bei Abweisung des im Berufungsrechtszug anhängigen Teils des Anspruchs kein Raum mehr für die Bejahung des restlichen erstinstanzlich noch anhängigen Teils des Anspruchs verbleibt.

Hanseatisches OLG Hamburg, Urteil v. 17.09.1996 – 1 U 1/96
Instanzen:
nicht rechtskräftig; LG Hamburg - 323 O 131/92
BGB §§ 276, 823 ff; ZPO § 537


Sachverhalt:

Die Klägerin verlangt von den Beklagten Schadensersatz wegen einer im Hause der Beklagten zu 1) von dem Beklagten zu 2) vorgenommenen zahnärztlichen Behandlung, einer subperiostalen Transplantation. Bevor sich die am 23.1.1945 geborene Klägerin im November 1991 in die Behandlung durch die Beklagten begab, hatte sie schon 10 Jahre lang eine herausnehmbare Oberkiefervollprothese getragen. Sie interessierte sich für Implantate und schließlich auch für die von den Beklagten angewandte Methode. So kam der Kontakt zwischen den Parteien zustande. Am 22.10.1991 ist die Klägerin deswegen nach H. zu den Beklagten gereist. Sie wurde von dem Beklagten zu 2) beraten. Der Inhalt des Beratungsgesprächs ist streitig. Fest steht, daß der Beklagte zu 2) der Klägerin zu einem subperiostalen Implantat riet, weil ihr stark atrophierter Oberkiefer für den Einsatz enossaler Implantate (Zahnwurzelersatz), wie unstreitig ist, nicht geeignet war.
Die Klägerin entschloß sich zu einem subperiostalen Implantat, bei dem die Schleim- und Knochenhaut des Kieferknochens eröffnet und ein metallenes Gerüst direkt auf den Kieferknochen aufgelagert wird. Danach werden Schleim- und Knochenhaut wieder geschlossen. Indes werden Öffnungen für mehrere am Gerüst befestigte Pfosten gelassen, auf denen sodann ein Zahnersatz festsitzend angebracht werden kann.
Die Behandlung ist in der Zeit vom 3. bis 18.11.1991 im Hause der Beklagten zu 1) stationär vom Beklagten zu 2) durchgeführt worden. In der Folge war die Klägerin mit dem auf dem Implantatgerüst befestigten Zahnersatz nicht zufrieden. Neben dadurch verursachten körperlichen Beschwerden (Schmerzen, Sprach- und Kauschwierigkeiten), über welche sie geklagt hat, hatte ihr die Arbeit auch ästethisch mißfallen (z.B. zu lange Zähne). Sie ließ den Zahnersatz entfernen und auf die Implantatpfeiler eine Kunststoffprothese setzen, die nur durch ein Prothesenhaftmaterial gehalten wurde.
Mit ihrer Klage hatte die Klägerin zunächst zur Rückerstattung des an die Beklagten gezahlten Honorars und ein Schmerzensgeld von mindestens 6.500 DM verlangt. Das LG hat ein schriftliches Gutachten von Prof. S. vom 8.11.1993 nebst Ergänzung vom 19.1.1995 eingeholt. Der Gutachter hat ausgeführt, daß das der Klägerin eingesetzte subperiostale Implantat wegen Verwerfbarkeit dieser Methode schlechthin nicht indiziert gewesen und zur Vermeidung (weiterer) Schäden sofort zu entfernen sei. In der Folge hat die Klägerin auch alle ihr bereits entstandenen und künftig noch entstehenden Nachbehandlungskosten durch Klageerweiterung geltend gemacht.
Durch das den Parteien am 30.11.1995 zugestellte Grund- und Teil-Urteil vom 23.11.1995 hat das LG die Klageansprüche zu 1 a) - c) für dem Grunde nach gerechtfertigt erklärt. Die Entscheidung über den Feststellungsantrag zu 1 d) wegen der Kosten weiterer, damals noch nicht abgeschlossener Nachbehandlungsmaßnahmen hat es dem Schluß-Urteil vorbehalten. Auf den Klageantrag zu 1 a) (Ersatz der bei den Beklagten entstandenen Kosten) hat das LG der Klägerin 13.704,17 DM zugesprochen; i.H.v. 3.244,52 DM hat es ihn abgewiesen. Schließlich hat das LG der Klägerin ein Schmerzensgeld von 6.500 DM zuerkannt.

Aus den Gründen:

Die Berufung ist zulässig und auch begründet.
Unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt, weder wegen Verletzung des mit der Klägerin geschlossenen Behandlungsvertrages, noch wegen einer an der Klägerin verübten unerlaubten Handlung i.S.d. §§ 823 ff. BGB sind die Beklagten der Klägerin zum Schadensersatz verpflichtet.
I. ... Die Anbringung eines Implantats, welcher Art auch immer, war bei der Klägerin indiziert. Sie konnte und/oder wollte aus ernstzunehmenden Gründen nicht länger eine konventionelle herausnehmbare Oberkieferprothese tragen. Davon ist das Berufungsgericht überzeugt. Selbst wenn dem nicht so wäre, könnte es dem Beklagten zu 2) wegen der Gesamtumstände des Falles nicht als Verschulden angerechnet werden, wenn er die Indikation zur Implantatversorgung annahm. Er hat hierfür in seinem Schriftsatz vom 3.9.1996 medizinische Erwägungen geschildert, welche sämtlich auf der auch von dem Sachverständigen (SV) Prof. S. festgestellten Tatsache fußen, daß beide Kiefer der Klägerin stark atrophiert waren.
Vor allem aber durfte der Beklagte davon ausgehen, daß die Klägerin aus persönlichen Gründen unter gar keinen Umständen mehr eine konventionelle Prothese tragen wollte. In Betracht kommen dafür nach der allgemeinen Lebenserfahrung viele Gründe, die für einen Menschen alternativ oder kumulativ je nach seiner Lebenssituation und seinen Bedürfnissen von Bedeutung sein können: Sicherheit, Genußfähigkeit (Gaumenplatte), Hygiene, Artikulationsfähigkeit und nicht zuletzt ästhetische Wünsche, deren Erfüllung gerade für einen auf seine Ästhetik bedachten Menschen, wie es die Klägerin ist, von der Lebensqualität bestimmender Bedeutung sein können. ... Der Beklagte zu 2) durfte nach der Überzeugung des Berufungsgerichts davon ausgehen, daß die Klägerin von für

sie als wichtig empfundenen Bedürfnissen motiviert war, als sie sich in seine Behandlung begab. Sie hatte sich schon zuvor mit der Implantationstechnik befaßt und das Buch "Zahnimplantate" von Linkow erworben. Eine konventionelle Prothese hatte die Klägerin schon seit 10 Jahren getragen. Etwa notwendigen Ersatz dafür hätte sie sich auf Krankenschein in ihrem Heimatort verschaffen können. Statt dessen ist sie eigens zu dem ihr durch ihre Lektüre von Implantationsliteratur bekannt gewordenen Beklagten zu 2) nach H. gereist und war ungeachtet ihrer durchaus begrenzten wirtschaftlichen Verhältnisse bereit, mit Hilfe eines Kredits 30.000 DM für Implantate zu bezahlen. Das tut nur jemand, davon durfte der Beklagte zu 2) jedenfalls schuldlos ausgehen, der unter gar keinen Umständen mehr eine konventionelle Prothese tragen möchte.
Angesichts dessen war der Versuch des Beklagten zu 2), der Klägerin mit einem subperiostalen Implantat zu helfen, indiziert.
Die subperiostale Implantation ist keine von vornherein mißbilligenswerte Außenseitermethode, sondern in der Zahnmedizin durchaus als Möglichkeit verantwortlichen ärztlichen Handelns anerkannt. Andernfalls könnte sie nicht, wie der SV Prof. S. auf S. 3 seines Zusatzgutachtens vom 19.1.1995 mitgeteilt hat, aufgrund von "Übereinkünften zwischen Krankenkassenverbänden, zahnärztlichen Standesvertretern und dem Gesetzgeber" Eingang in die Gebührenordnung für Zahnärzte gefunden haben, mögen diese Übereinkünfte auch schon längere Zeit, nämlich "in den 80er Jahren" getroffen worden sein. Auch bei Hoffmann-Axthelm, Lexikon der Zahnmedizin, wird die Methode noch in der 6. Auflage von 1995 (Seite 347) abgehandelt, indes mit dem Bemerken
"Das Verfahren tritt zugunsten enossaler Implantate ... in den Hintergrund, da unphysiologische Knochenbelastung und großflächige Implantatausdehnung häufig zu schweren Gewebeschädigungen ... führen. Folgen: Aufwendige Entfernung und oft durch Narbenbildung erheblich eingeschränkte Möglichkeiten der prothetischen Nachversorgung."
Daß enossalen Implantaten der Vorzug vor einer subperiostalen Versorgung zu geben ist, räumen auch die Beklagten ein. Unstreitig war indes der atrophierte Oberkieferknochen der Klägerin für eine enossale Implantation nicht geeignet. Eine zahnärztlich problemlos vertretbare andere Alternative bestand aus der Sicht des Jahres 1991, in welchem die Klägerin vom Beklagten zu 2) behandelt worden ist, noch nicht. "Schleimhautanker" ("Druckknopfprothesen"), wie man sie zuweilen verwendet hat und deren Unzulänglichkeit dem Senat aus seiner Spruchpraxis bekannt ist, hat auch keiner der anderen Zahnärzte, welche die Klägerin behandelt haben, auch nur in Erwägung gezogen, auch nicht der SV Prof. S. Die inzwischen bei der Klägerin angewandte Methode der Verpflanzung eines Teils des Beckenknochens als Kieferknochenersatz war seinerzeit erst in der Entstehung begriffen. Es handelt sich dabei um ein "für den Patienten sehr aufwendiges und belastendes Operationsverfahren", das in der Bundesrepublik Deutschland erst seit wenigen Jahren angewandt wird und zu welchem bis heute noch keine abschließenden Erfahrungen vorliegen, wie der SV Prof. S. noch 1995, nämlich in seinem Zusatzgutachten vom 19.1.1995 mitgeteilt hat. Dem Gedankengang dieses SV, daß sich subperiostale Implantate allein schon deshalb verböten, weil ihre Lebensdauer begrenzt sei und sie eines Tages unter vielleicht erheblichen Schwierigkeiten wieder entfernt werden müßten, vermag das Berufungsgericht nicht zu folgen. Wollte man eine so weitgehende Spätfolgenerwägung zum Maßstab ärztlichen Handelns verordnen, wäre es z.B. nie zu der so segensreichen Versorgung mit Endoprothesen gekommen, welche auch nach einer gewissen Zeit unter erheblichem Operationsaufwand und entsprechender Belastung des Patienten ausgetauscht werden müssen. Die Frage nach der Lebensdauer einer solchen Prothese kann lediglich für die Abwägung des Patienten selbst, ob er auf das Implantat verzichtet und statt dessen lieber eine konventionelle Prothese trägt, von Bedeutung sein, wenn im Einzelfall eine solche Alternative überhaupt in Betracht kommt. Hier kommt hinzu, daß der Beklagte zu 2) auf die gesteigerte Gewebeverträglichkeit des von ihm verwendeten Werkstoffes Titan vertraut hat, welche auch vom SV Prof. S. nicht in Abrede genommen wird. ...
Nach alledem kann es dem Beklagten zu 2) nicht als Verschulden zugerechnet werden, wenn er 1991 die Versorgung der Klägerin mit einem subperiostalen Implantat als seinerzeitige "ultima ratio" für geboten erachtet hat.
II. Die Implantierung durch den Beklagten zu 2) war auch nicht mangels der erforderlichen Einwilligung der Klägerin unwirksam. Daß sie zugestimmt hat, steht außer Frage. Erstmals im zweiten Rechtszug macht die Klägerin allerdings geltend, ihre Einwilligung sei mangels ausreichender Aufklärung über die Risiken der Behandlung unwirksam. ... Das Berufungsgericht ist davon überzeugt, daß der Beklagte zu 2) die Klägerin über die schon damals bekannten Risiken seiner Behandlungsmethode in einem den Anforderungen der höchstrichterlichen Rspr. genügenden Umfang "im großen und ganzen" aufgeklärt hat und daß sie Gelegenheit zu vertiefenden Fragen hatte (vgl. BGH NJW 1988, 1514, 1515 m.w.N.). Die Klägerin bestreitet nicht substantiiert, daß ihr der Beklagte zu 2) die Risiken geschildert hat, die in der von ihr am 3.11.1991 unterschriebenen Einverständniserklärung erwähnt sind. Die Unterschriftsleistung möglicherweise zur Unzeit, nämlich erst unmittelbar vor dem Eingriff, steht der Ordnungsmäßigkeit der Aufklärung hier nicht entgegen, weil das Aufklärungsgespräch unstreitig schon am 22.10.1991 stattgefunden hatte. Besonderes Gewicht hat dabei der Hinweis auf das "erhöhte Infektionsrisiko bei subperiostalen Implantaten und die damit eventuell verkürzte Tragzeit dieser Implantate". In dem Hinweis auf eine "verkürzte Tragzeit" ist zugleich die Belehrung enthalten, daß es für Implantate eine "Tragzeit" gibt, daß sie also eines Tages einmal wieder entfernt werden müssen.
Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß die Klägerin, wie behauptet, der Implantation nur zufolge einer Täuschung durch den Beklagten zu 2) zugestimmt hat, weil dieser ihr für den Fall der Unterlassung die Gefahr eines Oberkieferbruches dargestellt habe. (Wird ausgeführt.)


III. Durch dieses Urteil des Senats ist die Klage vollen Umfangs abgewiesen, also auch hinsichtlich des noch nicht vom LG entschiedenen Teils (Klageantrag zu 1d). Dem steht § 537 ZPO, welche von der sog. "Anfallswirkung" handelt, nicht entgegen. Zwar gilt danach als Grundsatz, daß Ansprüche, über die das Erstgericht überhaupt nicht entschieden hat, dem Berufungsgericht nicht anfallen (vgl. statt aller Baumbach-Albers, 54. Aufl., 1 B zu § 537 ZPO m.N.). In der höchstrichterlichen Rspr. (vgl. etwa BGH NJW 1978, 1430 ff.) ist aber anerkannt, was schon das RG (RGZ Band 171, 129 ff., 131) entschieden hat:
"Der Rechtsgrundsatz, daß im zweiten Rechtszug über Ansprüche, die im ersten Rechtszuge geltend gemacht worden sind, nur entschieden werden darf, wenn sie schon Gegenstand des ersten Urteils waren, erleidet eine Ausnahme für den Fall, daß bei Abweisung des Teilanspruchs kein Raum mehr ist; in einem solchen Falle hat das Berufungsgericht die Klage vollen Umfangs abzuweisen."
So ist es hier. Da das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten für die von der Klägerin geltend gemachten Schäden schon dem Grunde nach verneint, bleibt für das LG kein Raum mehr, eine Schadensersatzverpflichtung der Beklagten für einen späteren Zeitraum gemäß dem Klageantrag 1 d) festzustellen. ...

OLGReport Hamburg 1997, 101
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